Karl Heinrich Delschen
Zu den Fotografien Christian Gieraths’ aus Indien
Christian Gieraths hat ein Jahr in Mumbai gelebt, in einer jener heute „Megacities“ genannten urbanen Agglomerationen, die global exponentiell wachsen und wegen ihrer Alarmfunktion hinsichtlich eines Anwachsens vielfältiger sozialer, ökonomischer und ökologischer Problematiken seit einiger Zeit verstärkt Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Für die, die nach oben wollen, ist es allerdings in erster Linie ein Faszinosum, ein Sehnsuchtsort ohnegleichen.
„Bombay ist ein goldener Vogel“ – so zitiert Suketu Mehta in seinem berühmt gewordenen Buch „Bombay: Maximum City“ einen Mann, der damit erklärt, „weshalb er hierhergekommen sei, warum immer wieder Menschen hierherkommen.“ Und Mehta fährt, nicht ohne mythologische Überhöhungen, fort: „Bombay ist die größte, die schnellste und die reichste Stadt Indiens. Krishna könnte Bombay gemeint haben, als er im Zehnten Gesang der Bhagavadgita von Gott sprach, der sich in all seiner Fülle offenbart:
Ich bin der Tod, der Alles dahinrafft,
und der Ursprung von allem, was entsteht…
Ich bin das Würfelspiel unter den Betrügern,
und der Glanz von Allem, was glänzt.
Es ist eine maximum city.“
In Mumbai zu leben bedeutet, insbesondere für einen westlichen Besucher, in einen Strudel von Umbrüchen und heftigen Gefühlen hineingerissen zu werden, Faszination, Staunen, pure Freude, Erschrecken, Ekel, Überdruß überlagern und durchdringen sich immer wieder neu. Gieraths verdeutlicht die Intensität des Widerstreits seiner Erfahrungen in der Formel „Mumbai Beautiful Hell“.
Er vermeidet aber in seiner fotografischen Serie von Einzelbildern, die er z.T. auch zu imposanten Diptychen und Triptychen erweitert, jede direkte Bezugnahme auf die evidenten Realitäten, er liefert keine Reportage der sich gegenwärtig vollziehenden enormen Veränderungen, auch die mit den Realitäten Indiens nun einmal fast reflexhaft einhergehenden Erwartungen auf Bilder der Marke „Elend“, „Magie“ etc. will er nicht bedienen.
Schon durch seine Arbeitsweise mit der analogen Großformatkamera ist er zu Gelassenheit aufgerufen, die nüchtern-kalkulierende Distanznahme ist darüber hinaus Teil seines ästhetischen Konzepts, hinzu kommt zugleich die Offenheit für das Fremde, das Geheimnis, das Unerwartete.
In seiner Entwicklung maßgeblich von der Polarität der selbstrefentiellen, das Medium der Fotografie reflektierenden Arbeit Thomas Ruffs einerseits und der Bildkonzeption eines malerischen Minimalismus bei Ulrich Erben andererseits herkommend, folgt er generell seinem Ideal eines konzentrierten, abstrahierenden Zugriffs, durch den der Betrachter die Öffnung des Abbildes zum Bild erleben kann: Bildfindungen, in denen sich Austauschverhältnisse ereignen, die eine nur vordergründige Welterfahrung durchkreuzen. Die Evidenz des Fotografischen, so der modus operandi, tritt nie statisch „fixiert“ auf, sondern wird wie nebenbei aufgelöst oder umgangen, indem schon im Ansatz Austauschverhältnisse mit einem intuitiv-kontrolliert eingreifenden Bildgedächtnis wirksam werden, wodurch sich die Bilder aufladen und, auf diverse ästhetische Implikationen hin lesbar, eine jeweils eigene Spannung vermitteln.
Gieraths hat, bevor er sich für ein Jahr in Mumbai niederließ, zunächst eine Rundreise durch Indien unternommen, um ein Gefühl für das Land zu bekommen und um zu erkunden, ob und wie sich Mumbai seines Selbstverständnisses gemäß vom Rest des Landes unterscheidet. Die Bilder, die er auf dieser Reise aufgenommen hat, hat er in einer „Prolog“ benannten Suite vom Korpus der anderen Bilder separiert. Eine Exkursion führte ihn dann noch für eine bestimmte Zeit nach Delhi, wo er ebenfalls eine Serie von Fotografien herstellte, die er gleichfalls in einer eigenen Gruppe zusammenfaßte.
Mumbai bot seiner Lage, seiner Geschichte und seiner rasanten gegenwärtigen Veränderung wegen ein Angebot eigenen Gewichts, das Angebot eines dichteren komplexeren Kontexts.
Wie schon in den früheren Serien seiner „cityscapes“ und „urban stills“ dominiert auch hier die Motivik der Straßenecken, der Gebäudeblöcke und Fassaden, der Kinosäle, der Hoteleingänge, der Ladenansichten, der Bahngleise, der Plakatwände und der Reklametafeln.
Personen treten, soweit es sich vermeiden läßt, nicht auf, und wenn, dann nur eingepaßt in Strukturen des städtischen Lebens, aus dem sie nicht individuell heraustreten. Als Beispiele hierfür mögen gelten „Rajesh Typing, Old Oriental Building, Fort, Mumbai, 2010“, das Bild einer dem Betrachter den Rücken zukehrenden Frau in einem kleinen Dienstleistungsladen für Schreibarbeiten, oder die Aufnahme „Strasse, Near Grant Road Station, Mumbai, 2010“, das ausschnitthafte Porträt eines visuell höchst interessanten Gebäudes an einer Straßenecke, in das die Menschen wie Figuren in ein lebendiges Patchwork gruppiert sich einfügen.
Der Fotograf durchstreift den urbanen Raum, läßt sich vielleicht spontan affizieren von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten, auf die er oft zufällig trifft, dann beginnt mit einem Zögern, der Suche nach einem Aufnahmestandort, die konstruktive Arbeit aus der Distanz, die diskret dem Besonderen von Ort und Augenblick nachspürt, bis sich jene „Stillstellung der Zeit“, ereignet, als die Bonnard das Bild definiert. Gieraths erweist sich hier als genauer Schwellenkundler. Das Potential des realen Raums, eines Existenzraums von Menschen, wird sachlich-imaginativ ausgelotet, ein intendierter harter Realismus würde die Entfaltung dieser Kräfte für die Bildwerdung ebenso verhindern wie das Verlassen dieses Raums und der Übertritt in die vollständige Abstraktion.
(Die Aufnahme „Treppenaufgang, Maratha Mandir Theater, Maratha Mandir Marg, Mumbai, 2010“, die man als ein Beispiel für eine „kontinuerliche, somnambule Konzentration der Beobachtung der Gegenstände und Farbwerte“ ansehen kann, wo „fast wie in der abstrakten Malerei die farbplastische Situation befreit, transzendent und faszinierend selbständig“ wird, markiert hier eine Grenze und kann als Beispiel für die Bandbreite der von Gieraths gehandhabten Möglichkeiten der Fotografie gelten.)
Verführungskraft gewinnen die Bilder durch Sensibilität für Raumwahrnehmung, für Atmosphären, für rhythmische Akzentsetzungen und Gliederungen, für subtile Farbschattierungen und Farbklänge, durch Raffinement in der Lichtgestaltung, durch feines Gespür für das Zusammenspiel von Farbe und Licht im Raum sowie durch einen präzisen Sinn für die visuelle Kraft von Schrift- und Zeichenwelten.
Gieraths liefert Ansichten einer Metropole im Umbruch, paradoxerweise aber so, daß er sich nie fixiert auf ein „Außen“, er konzentriert sich vielmehr auf das Ungreifbare, was „hereinschwingt“ und das er in stillen und kontemplativen Bildern wie in einem imaginativen Code zu bannen versucht. Der Augenblick kann zum epiphanischen werden dort, wo das Zarte, das Schöne aufscheinen und den Betrachter anrühren.
Das Bild entläßt den Betrachter so auch in „andere“ als nur in reale Zusammenhänge, die als solche gleichwohl präsent bleiben.
Mehta, Suketu: Bombay Maximum City, Frankfurt/M. 2006, S. 33 f.
Aleksandr Borovskij, in: Boris Savelev. Momente der Dauer, Bonn 1999, S.52.