Malerische Fototräume von Helga Meister

in Wanderpause, Ausstellungskatalog, Moers, 2005
Christian Gieraths (Jg. 1976, Kunstgeschichte, Philosophie und angewandte Kulturwissenschaften WWU Münster, 2000 zu Erben und Zweithörer bei Thomas Ruff in Düsseldorf) wurde von Ulrich Erben gewarnt, er könne ihm in der Fotografie nichts beibringen. Das musste er auch nicht, Christian hatte in Münster als Praktikant in einem Fachlabor und als Assistent bei einem Modefotograf die technischen Raffinessen kennen gelernt. Er fand in Münster ideale Bedingungen vor und hat das Labor fast allein für sich, wo er die
Ergebnisse seiner Fotoreisen bearbeitet. Im Gegensatz zu seinem Düsseldorfer Kommilitonen Robert Voit geht es ihm nicht um witzige, ironische, entlarvende oder analysierende Bildgedanken, sondern um Malerei auf Fotopapier, um Stimmungen und atmosphärische Farben eines Landes oder einer Stadt. 2004 interessierten ihn in Havanna die Rots der Stuhlreihen im Filmpalast. Um Spannung in die Kompositionen zu bringen, schneidet er den Zuschauerraum im Großen Theater an, lässt den Blick vom zweiten Rang sowohl auf die Bühne als auch auf die Balustraden des dritten und vierten Rangs gleiten. Die Innenräume hat er längst verinnerlicht. Immer wieder genießt er die verschiedenen Lichtverhältnisse in den Spiegeln des Frisiersalons etwa, wo sich die türkisfarbene Wand mit dem kalten Neonlicht und das bläulich gebrochene, warme Tageslicht wiederfinden. Ihn freut es, wenn die Location an ein Filmset erinnert. Er arbeitet mit vorhandenem Licht, den Funzelbirnen im Ballsaal mit dem plakatierten Bühnenvorhang etwa. Es dauert manchmal eine Minute, bis er genügend Licht gesammelt hat, bevor er den Auslöser bedient. Den letzten Schliff bekommen seine Fotos bei der Vergrößerung der Negative in der Dunkelkammer. Denn Gieraths arbeitet mit einer analogen Hasselblad Mittelformat-Kamera und hat daher stets die typischen quadratischen Formate, die die harmonische Form gleich mitliefern. Da er mit seinem Apparat im Gegensatz zur Großbildkamera stürzende Wände nicht korrigieren kann, gewinnt er rechtwinklige Situationen nur dadurch, dass er weite Vorbühnen zeigt. In der Sporthallen-Aufnahme von Havanna präsentiert sich das Spielfeld mit den gelben und roten Markierungen im Verbund mit dem monochromen Grün der Wand und den roten „Punkten“ wie ein Gemälde. Hier beobachtet ein Malerauge die Situation. „Der Boden hat so viel Geschichte“, sagte er im Jahr 2000, als er seinen Professoren Ruff und Erben die Aufnahmen aus dem Kaukasus präsentierte. Schon damals waren es subtile Stimmungsbilder eines verblichenen Reiches, altmodische Büroräume mit Plastiktelefon, abgenutzte Theaterräume. Anders in Rumänien, wo er 2002 die strengeren, kühleren, bräunlichen Töne stundenlang im Fotolabor herausfilterte. Im Gegensatz zum düsteren Palast von Ceaucescu entdeckte er die spielerische Buntheit in Kapstadt, wo der Eingang zur Messe- und Konzerthalle dank der verschiedenartigen Lichttemperaturen der Glühbirnen, Leuchtstoffröhren und des Tageslichts eine neue Heiterkeit erhält. In menschenleeren, scheinbar banalen Räumen trachtet Gieraths danach, die Spuren des Lebens und der alltäglichen Geschichte einzufangen.